feigen und gemeinen

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Abscheu und Empörung über den feigen und gemeinen

Tja, 20 Jahre zu spät, aber dafür pünktlich zum 109. Geburtstag des Führers war es dann soweit: Reuters, die Nachrichtenagentur des Landes, das schon viel länger eine RAF hat (Royal Air Force) erhält aus Karl-Chemnitz-Stadt den allseits bekannten 8-Seiten-Schrieb, mit dem das Namensvetterchen sein Dahinscheiden erklärt.

Wir erinnern uns: am 14. Mai 1970 wird Adreas Baader während einer Ausführung aus dem Gefängnis befreit. Und gleich pfeifen die Kugeln, fließt Blut. Ein Tabu war gebrochen. Unsere Gegengewalt gegen die organisierte Gewalt des Staates hatte sich bis dato (wenn man mal von den zahlreichen Prügelein mit der Polizei absieht) ausschließlich gegen Sachen gerichtet. Bei all den kleinen Brandanschlägen und Entglasungsaktionen war es immer oberstes Gebot gewesen, dass niemand dabei verletzt werden sollte. Dennoch: in der damaligen radikalen Westlinken, zu der auch der nichtsnutzige Verfasser dieser Zeilen gehörte, stößt dieser politische Paukenschlag zunächst auf breite Zustimmung. Zu den klammheimlichen Bewunderern dieser Aktion gehören auch viele, die alles andere als radikal sind; die dann, als sie merken, wohin der Hase zwangsläufig wetzen wird, sich recht schnell wieder distanzieren, um ihre Karriere im Apparat nicht zu gefährden. Immerhin erklären in einer repräsentativen Umfrage anfang 1972 in der BRD rund ein Viertel der Befragten unverhohlene Sympathie für die RAF und ihre ersten Aktionen gegen US-Amerikanische Einrichtungen in Westdeutschland, mit denen der Befreiungskampf eines kleinen tapferen Volkes in Südostasien unterstützt werden sollte.

Das war die Geburtsstunde des „Konzeptes Stadtguerilla“. Zu den – kritischen – Befürwortern dieses strategischen Planes gehörten auch wir, der Blues, der Zentralrat der umherschweifenden Haschrebellen, die Tupamaros Westberlin, die Schwarzen Ratten, die Schwarzen Zellen, und wie wir uns sonst noch – teilweise in Personalunion – damals nannten. Doch wir hatten Anderes – aber Ähnliches – im Sinn. Der marxistisch-leninistisch-maoistisch gewirkte Einheitsanzug, den die RAF allen Militanten anziehen wollte, mochte uns nicht so recht passen. Das Ding kratzte hinten und vorne. Und der kulturevolutionäre Aspekt kam bei der RAF entschieden zu kurz. Und so verweigerten wir uns dem Liebeswerben unserer roten Brüder und Schwestern, obschon es anfänglich noch diverse theoretische und praktische Berührungspunkte gab. Rekrutieren lassen wollten wir uns aber auf keinen Fall. Stattdessen gründeten wir das libertärsozialistische proletarische Pendant, die Bewegung 2. Juni.

Die erste Zäsur in unserer anfänglich noch hocherotischen Beziehung zur RAF (inklusive diverser personeller Fluktuationen) kam mit dem Bombenanschlag 1972 auf das Springer Verlagshaus in Hamburg, bei dem 17 Arbeiter verletzt wurden. Trotz rechtzeitiger Warnungen wurde das Gebäude nicht geräumt (bis auf die Chefetage, wie Gerüchte lauteten). Damit hätte man rechnen müssen. Auf unsere Kritik kommt die lapidare Antwort: „Wir haben Springer nicht als das Schwein eingeschätzt, das er tatsächlich ist“. Prompt kommt es zu diversen Bombendrohungen, nach denen dieser oder jene Hauptbahnhof etc. gesprengt werden soll – Fingerübungen der Geheimdienste. Eine weitergehende Diskussion über das Konzept der RAF, um die sich ebenso breite wie seriöse Teile der radikalen Linken bemühen (u.a. Hamburger Arbeiterkampf u.a. Gruppierungen), wird von der RAF abgelehnt. Eine Woche später wird ein Großteil des sogen. „harten Kerns“ medientauglich inszeniert in Frankfurt/M. eingelocht. Im Laufe der nächsten Wochen werden so gut wie alle Aktiven der ersten Generation abgeräumt.

Die Maschine kommt ins Rollen. Tote und Verletzte. Darunter auch Unbeteiligte, die von der Polizei bei Razzien und Kontrollen erschossen werden. Gesetze werden geändert, Polizei und Geheimdienste blähen sich auf. Ein Großteil der Linken distanziert sich; Entsolidarisierung bis hin zur Denunziation. Die Maschine rollt und die Weichen sind gestellt. Eine inhaltliche Diskussion mit – der nächsten Generation – der RAF findet nicht mehr statt. Die Bewegung 2. Juni und die RAF beschreiten fortan – bis auf informelle Kontakte – getrennte Wege.

Die olympischen Sommerspiele 1972 in München. Das Palästinenserkommando „Schwarzer September“ nimmt die israelische Mannschaft als Geiseln. Das anschließende Massaker auf dem Flughafen von Fürstenfeldbruck hat die westdeutsche Polizei zu verantworten. Unser Versuch der Solidarisierung mit dem Kommando misslingt: Bauchschmerzen. Die RAF sieht das anders. In immer schwerer verständlichen Traktaten versucht die RAF ihr Konzept zu erklären und voranzutreiben. In den Gefängnissen wird die Lage für die Gefangenen derweil prekär: „sensorische Deprivation“, i.e. der Versuch des weitgehenden Entzuges von Sinnesreizen durch strengste Isolationshaft (von Amnesty International als „weiße Folter“ bestätigt). Es kommt zu den ersten Hungerstreiks. Holger Meins stirbt. Der höchste Richter Westberlins, Drenkmann, wird beim Entführungsversuch durch ein Kommando der Bewegung 2. Juni – unbeabsichtigt – erschossen (1974).

Die verschiedenen Gruppen der Bewegung 2. Juni versuchen, zu den Wurzeln zurückzukehren: Agitation in den Betrieben, bewaffnete Propaganda, massenhafter Nachdruck von Fahrscheinen für die öffentlichen Verkehrsbetriebe, Fälschungen von Kantinenessens-Bons in Großbetrieben u.a. Eine Fraktion gründet eine Auslandsfiliale in Stockholm, mit dem Ziel, den Kampf in den Metropolen mit dem der Befreiungsbewegungen in der sogenannten 3. Welt zu verbinden; denn Stockholm ist durch seine – damalige – liberale Flüchtlingspolitik zu einer internationalen Drehscheibe geworden. Allerdings bleiben wir wählerisch: als eine Gruppe des äußerst dubiosen Abu Nidal mit uns Kontakt sucht, lehnen wir dankend ab. Auch unsere kulturevolutionären Wurzeln sind noch intakt: z.B. eröffnet MacDonald`s seine erste Filiale in Stockholm, wir schließen sie mit Hilfe handelsüblicher Chemikalien wieder. Bumm. Die schwedischen Anarchisten sind schwer agil.

Die RAF versucht ebenfalls, internationalen Ankratz zu bekommen; darunter auch bei äußerst zweifelhaften Regimes. Eine Diskussion darüber mit der Basis findet nicht mehr statt. Die „Front“ gibt die politischen Direktiven heraus, die „Massenbasis“ hat das kommentarlos zu fressen: Wer nicht für uns ist, ist gegen uns. Die Gefangenen aus der RAF fordern mittlerweile für sich einen Kriegsgefangenenstatus gemäß der Genfer Konvention, was einigermaßen schwachsinnig ist; denn selbst nach den Zusatzprotokollen zur Genfer Konvention von Anfang der siebziger Jahre, mit der die Kombattanten der zahlreichen Befreiungsbewegungen weltweit geschützt werden sollten, erfüllen die Mitglieder der europäischen Stadtguerilla diese Bedingungen natürlich nicht (offenes Tragen von Waffen, einheitliches Oberkommando, Kennzeichnung der Kombattanten mindestens durch Armbinden). Im Übrigen ist dieser Versuch der Selbstaufwertung in der Krise Mickey-Mouse-Kram – oder hat schon mal wer erlebt, dass Irreguläre deswegen geschont worden sind?

Anfang 1975 landet die Bewegung 2. Juni ihr dickstes Ei: der Westberliner CDU-Vorsitzende Lorenz wird entführt und nach einer Woche freigelassen, nachdem zuvor fünf Gefangene in den Jemen ausgeflogen worden waren. Kein Schuss war gefallen, niemand ernsthaft verletzt worden. Nicht wenige in Berlin lachen sich ins Fäustchen. Jahre später, im Prozess gegen seine Entführer, wird Peter Lorenz übrigens nur in den nettesten Tönen über seine Woche im „Volksgefängnis“ und über seine Bewacher plaudern.

Die RAF versucht – auf ihre Art – gleichzuziehen: ein schwer bewaffnetes Kommando besetzt zwei Monate später die deutsche Botschaft in Stockholm und bringt 12 Botschaftsangehörige in seine Gewalt. Das Kommando verlangt die Freilassung von 26 (!) Gefangenen. Bei der Lorenz-Aktion konnte und musste die Regierung Schmidt/Genscher noch mit Bauchgrimmen auf die Forderungen eingehen; das Opfer war der Westberliner Oppositionschef, das Versteck konnte – zunächst – trotz haarsträubenster Methoden nicht lokalisiert werden. Die Stockholmer Aktion endete so desaströs wie sie angelegt war. Nachdem vom Kommando nach Verstreichen eines Ultimatums bereits eine Geisel erschossen worden war, explodierte plötzlich der vom Kommando im Gebäude angebrachte Sprengstoff. Die Ursache dafür ist bis heute unklar. Ein weiterer Botschaftangehöriger und ein Mitglied des Kommandos sterben. Die schwedische Polizei stürmt das brennende Gebäude. Das RAF-Mitglied Hausner wird schwerst verletzt. Trotz der Bedenken namhafter schwedischer Ärzte wird Hausner in die BRD ausgeflogen, wo er kurze Zeit später – nicht etwa in einer Spezialklinik, sondern auf der Intensivstation des Stammheimer Knastes – stirbt.

Es gibt weitere Tote und zahlreiche Festnahmen. Auch ein Teil der Bewegung 2. Juni wird eingelocht. In Stammheim beginnt der Prozess gegen den sogenannten harten Kern der RAF. Die „dritte Generation“ der RAF übernimmt. Von deren Mitgliedern ist kaum noch jemand aus linksradikalen Zusammenhängen bekannt. Die „Counterguerilla“ übernimmt dafür die Spielwiese: Bombenanschläge auf die Hauptbahnhöfe von Hamburg, Nürnberg und Köln.

Am 8.5.1976 wird Ulrike Marie Meinhof erhängt in ihrer Zelle aufgefunden. In ganz Europa kommt es zu einer Welle von Anschlägen auf Westdeutsche Einrichtungen. Die RAF und ihre Symphatisanten kreieren einen neuen Mythos. Fakt ist, dass Ulrike Meinhof heftigste ideologische (und persönliche) Auseinandersetzungen mit dem Rest des „harten Kerns“ hatte. Fakt ist, dass ihre gezielte Ermordung durch staatliche Organe zu diesem Zeitpunkt keinerlei taktischen oder strategischen Nutzen hätte. Und die Stadtguerilla der BRD hat es jetzt schon seit einiger Zeit mit der Creme der NATO-Geheimdienste und deren Counter-Insurgency-Abteilungen zu tun. Fakt ist aber auch, dass jeder Tote im Knast auf das Konto der Machthaber geht, denn das Kalkül der Isolationshaft sind entweder Verräter und Aussteiger oder – Leichen.

Rechtzeitig zum grand finale werden weitere Gruppierungen – in freundschaftlicher Abgrenzung zur RAF – aktiv: Die Revolutionären Zellen sowie eine assoziierte Frauentruppe namens Rote Zora. Beide Gruppen betreiben deutlich eine (militante) Politik, die aus den Fehlern der RAF und der Bewegung 2. Juni zu lernen versucht. Doch der Staat hat bereits zur Tabula Rasa angesetzt: Neue Gesetze, Gesetzesänderungen, blinde Verfolgung von allem, was sich irgentwie links gebärdet. Die Verfassung ist nur noch papierner Hohn.

1977 ist ein Scheißjahr und wird als solches in die Geschichte eingehen. In der Nacht zum 1. April (sic!) wird der nichtsnutzige Verfasser dieser Zeilen mit seiner gesamten internationalen Gruppe in Stockholm von der Platte geputzt und drei Tage später an die BRD ausgeliefert. Am 7. April werden Generalbundesanwalt Buback (der Chef der obersten westdeutschen Anklagebehörde und Hauptverantwortlicher für die Isolationshaft) und sein Fahrer erschossen: die soundsovielte Generation der RAF hat zu einer neuen Offensive angesetzt. Die Knast-RAF macht derweil in Hungerstreiks, an denen sich teilweise auch Mitglieder anderer bewaffneter Gruppen beteiligen. Die RAF fordert weiterhin den Kriegsgefangenenstatus gemäß der Genfer Konvention sowie als Neuerung die Zusammenlegung in „interaktionsfähige Gruppen“. Beides wird auch von den Gefangenen aus der Bewegung 2. Juni diskutiert – und verworfen: wir wollen aus den Hochsicherheitstrakten heraus, lehnen die Trennung in „politische“ und „soziale“ Gefangene aber ab und fordern unsere Anerkennung als Kriminelle und Integration in den sogenannten Normalvollzug. Wir gehen davon aus, dass jeder Gefangene auch ein politischer Gefangener ist, weil er in der Regel an die Grundpfeiler des Systems geschifft hat, die da heißen: Mehrwert zu schaffen und Eigentum zu achten.

Die RAF mutiert zur Befreit-die-Guerilla-Guerilla: Ende Juli wird der Vorstandsvorsitzende der Dresdner Bank, Ponto, bei einem Entführungsversuch erschossen. Anfang September wird der Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie und der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände sowie Vorstandsmitglied von Daimler Benz, Hanns-Martin Schleyer, von der RAF in Köln entführt. Die Aktion wird mit beispielloser Härte durchgeführt: vier Personen (Leibwächter und Fahrer) werden gezielt erschossen, um Schleyer wegschleppen zu können. Das ist alles Andere als eine sozialrevolutionäre Aktion; es ist ein Massaker an vier Leuten, deren Leben offensichtlich nichts Wert sind, um an den Fünften heranzukommen, dessen Leben dann im Austausch die Leben der Gefangenen aufwiegen soll.

Die Diskussion unter den Gefangenen über das zutiefst reaktionäre Element in dieser Aktion muss erstmal warten: über uns wird die „Kontaktsperre“ verhängt. Teile der Verfassung werden für die Gefangenen per Ukas außer Kraft gesetzt. Das ist in der Geschichte der BRD einmalig (wenn man mal von der Verabschiedung der sogenannten Notstandsgesetze 1969 absieht, in denen es allerdings „nur“ um Optionen darauf ging). Später wird das Ganze natürlich in Gesetze gegossen und vom Bundesverfassungsgericht letztinstanzlich abgesegnet; der vorangegangene Verfassungsbruch zeigt jedoch in aller Deutlichkeit, wie dünn die Decke der Rechtsstaatlichkeit in diesem von Alt-Nazis geprägten Land ist.

Kontaktsperre heißt: absolute Isolation von der Außenwelt, also auch keine Anwaltsbesuche, keine Presse, keine Nachrichten; in einzelnen Knästen haben sogar die Schließer Sprechverbot. Die Gefangenen sind jeglicher legaler Kontrolle entzogen. Dieser Zustand dauert sechs Wochen lang.

Schmidt, Genscher, Strauß und Konsorten zeigen ihr wahres Gesicht: Auf das Leben ihres alten Nazi-Kumpels* Schleyer geben sie keinen Pfifferling, Staatsräson pur ist angesagt. Im Krisenstab wird alles in nie dagewesener Freimütigkeit diskutiert: Standrechtliche Erschießungen von Gefangenen, Wiedereinführung der Todesstrafe, Aussagenerpressung durch Drogen und/oder Folter und was die Fratze, die da sichtbar wird, sonst noch auf der Pfanne hat.

Am 13. Oktober hängt sich ein Palästinenser-Kommando an die Schleyer-Aktion an und entführt über dem Mittelmeer eine Lufthansamaschine mit Mallorca-Urlaubern. Nach tagelangem Irrflug, der Ermordung eines Piloten und Todesqualen für die Passagiere wird die Maschine schließlich in der somalischen Hauptstadt Mogadischu von der GSG-9 gestürmt, drei Palästinenser werden erschossen, eine Palästinenserin wird schwer verletzt gefangengenommen; die Geiseln bleiben weitgehend unverletzt. Für die Erlaubnis zu dieser Aktion bezahlt die BRD rund 40 Millionen Mark an den somalischen Präsidenten Barré. In der gleichen Nacht sterben im siebten Stock des Gefängnisses von Stuttgart-Stammheim drei Gefangene: Baader und Raspe durch Schusswunden, Ennslin durch Erhängen; Möller überlebt mit Stichverletzungen in der Brust. Am nächsten Tag wird Schleyer erschossen im Kofferraum eines Autos in Mülhausen, Frankreich, aufgefunden.

Die Kontaktsperre wird aufgehoben, gleichzeitig werden die ohnehin harten Haftbedingungen weiter verschärft. Ein neuer Mythos wird diskutiert: Mord oder Selbstmord in Stammheim? Die Kluft zwischen beiden Ansichten ist tief und zieht sich durch die gesamte BRD-Öffentlichkeit. Eine rationale Diskussion darüber scheint nicht möglich zu sein. Ich persönlich neige – trotz zahlreicher Ungereimtheiten im Untersuchungsbericht – zur Selbstmordversion. Ein Mord wäre einfach unlogisch im Denkschema der Machthaber; bloße Rache oder der Wunsch, das „gesamte Problem“ so aus der Welt zu schaffen, ebenso: dann hätte man wesentlich mehr umlegen müssen. Und einen professionellen Mordanschlag staatlicher Killer hätte Irmgard Möller mit Sicherheit nicht überlebt. Zuzutrauen, allerdings, ist den Herrschenden alles. Drei Wochen später wird Ingrid Schubert – auch sie ein Gründungsmitglied der RAF – im Knast von Stadelheim erhängt aufgefunden.

Unter den Gefangenen aller Gruppierungen sowie in Teilen der militanten Linken beginnt eine heftige Diskussion. Diese wird auf der einen Seite von der Justiz durch abartigste Zensureingriffe in die Gefangenenpost und die Pressefreiheit an sich, und auf der anderen Seite durch die Borniertheit und an pseudoreligiösen Wahn grenzende Arroganz der RAF-Gefangenen erheblich behindert. Und im Grunde genommen verhindert. Wer die RAF kritisiert, „handelt wie ein Nazi-Scherge“; bestenfalls versteht der Kritiker „die Dimensionen des Kampfes“ nicht mehr. Die Spaltung ist offensichtlich. Ein Teil der sozialrevolutionären Gefangenen (natürlich ohne RAF-Angehörige) veröffentlicht eine Erklärung, in der klar gemacht wird, dass wir uns nicht durch Flugzeugentführungen o.ä. Geiselnahmen von Unbeteiligten befreien lassen werden. Allgemein wird eine politisch/militärische Zwischenlandung angemahnt, um die längst überfällige Debatte über das Woher & Wohin führen zu können.

Die Chancen dafür stehen schlecht. Das Anfang der siebziger Jahre von Willy Brandt kongenial initiierte Konzept des „mehr Demokratie wagen“ (i.e. der großangelegte Versuch, die linke Intelligenzija ins System zu integrieren, um so die sich abzeichnende sozialrevolutionäre Revolte zum Kippen zu bringen) kommt jetzt voll zum Tragen – allerdings mit einem Minimum an „Demokratie“. Aus dem ursprünglichen Bestechungsversuch wird die blanke Drohung: wer sich nicht eindeutig distanziert, wird in Zukunft noch nicht einmal mehr einen Job als Müllkutscher kriegen, geschweige denn als Lehrer, Arzt, Redakteur usw. Bei vielen von uns, den eingelochten Aktiven der ersten Stunde, setzt die Erkenntnis ein, dass wir diesen Krieg – so jedenfalls – nicht gewinnen können. Aus der Idee von der organisierten Gegengewalt, als gesellschaftliches Regulativ gegen Auswüchse des Systems, ist eine militärische Auseinandersetzung geworden, in der wir Chancen wie ein Schwein beim Metzger haben. Das Konzept Stadtguerilla bedarf dringend einer Generalinventur. Für die meisten Linken ist der bewaffnete Kampf gegen das System ohnehin obsolet geworden. Viele setzen von nun an ihren Kampf gegen den Kapitalismus und seine imperialistischen Konsequenzen – auch militant – auf einer neuen Ebene fort: Kampf gegen die Atomkraft heißt die neue Klammer, die eine breite kritische Öffentlichkeit zusammenfasst. Die Bürgerrechtsbewegungen (die sogenannte vierte Gewalt) lösen die linksradikale Bewegung der sechziger und siebziger Jahre allmählich ab. Der bewaffnete Kampf, der nun endgültig zum Privatkrieg einer minoritären Sekte geworden ist, wird von jetzt an hauptsächlich vor dem Fernseher verfolgt und kommentiert. Unterstützt wird diese Entwicklung durch Neuzugänge bei der RAF, deren Namen und Gesichter auf den Steckbriefen niemand mehr aus politischen Zusammenhängen kennt (bis auf ein paar Karteileichen aus alten Zeiten, die dann 1990, nach dem Mauerfall, in der DDR eingesammelt werden).

Mit ihrer neuen Offensive wird aus der einstigen Guerilla endgültig eine Killertruppe, die ebenso namhafte wie aber auch austauschbare Charaktermasken des Systems mit immer ausgeklügelteren Methoden ins Jenseits befördert. Die Erklärungen dazu werden immer verworrener; niemand versteht sie mehr so richtig. Manchmal sind sie offensichtlich nur noch Konglomerate aus Versatzstücken früherer Erklärungen. Zwischendurch wird übrigens von ein paar späten Mädels (darunter Inge Viett) die Bewegung 2. Juni mal eben für aufgelöst bzw. als zur RAF übergelaufen erklärt. Wir, ihre Gründungsmitglieder, werden gar nicht mehr gefragt. Aus fragwürdiger Politik wird Lächerlichkeit. Allerdings eine gefährliche Lächerlichkeit. Denn – kleiner Einschub: gehen wir davon aus, dass das Kapital wie eine global agierende Mafia organisiert ist. Ergo werden auch die Kämpfe um besonders ertragreiche Pfründe mit Mafia-Methoden ausgetragen. Dies betrifft auch Diadochenkämpfe aller Art – wenn es nur um genug Macht und Knete geht. Für das Kapital an sich bedeutet der Tod eines von Braunmühl, Zimmermann, Herrhausen, Beckurts, Rohwedder etc. nichts – für den Einzelnen natürlich alles. Nehmen wir mal den Treuhandvorsitzenden Rohwedder als Beispiel. Die Treuhand war (bis zu ihrer Ablösung durch eine ähnliche kriminelle Vereinigung) eine Goldgrube ohne Ende: die Pretitiosen eines ganzen, kläglich verendeten Staates werden „abgewickelt“. Wer hier an maßgeblicher Stelle am Ball ist, kassiert mächtig ab. Kein Wunder, dass Rohwedders Good Fellows neidisch auf den Job sind. Man nehme also ein automatisches Präzisionsgewehr und präpariere dasselbe für spätere vergleichende ballistische Untersuchungen durch das BKA, indem man anlässlich des Golfkrieges damit nächtens 250 Schuss aus sicherer Entfernung über den Rhein hinweg auf die Ami-Botschaft in Bonn abfeuert. Eine tolle „revolutionäre“ Aktion, die weniger als eine Minute dauert. Die dazu gehörige Erklärung, sowie später die zu den tödlichen Schüssen auf Rohwedder, kann man sich auf jedem Computer aus den Versatzstücken der RAF-Erklärungen basteln. – Das ist natürlich blanke Theorie, aber wir haben es schließlich nicht mit Pappnasen zu tun, sondern mit der stärksten Macht dieses Planeten.

Zurück in die achtziger jahre. Neben Führungspersönlichkeiten aus dem MIK (= Militärisch-Industrieller-Komplex; wahrscheinlich eine offizielle DDR-Wortschöpfung) greift die RAF im Rahmen ihrer neuen Kampagne verstärkt auch NATO-Basen bzw. amerikanische Militärniederlassungen an. Dabei kommt es im August 1985 zu einem widerwärtigen Zwischenfall, der nicht wenige der letzten RAF-Symphatisanten zu eindeutigen Distanzierungen veranlasst: in einer Wiesbadener Diskothek wird ein junger US-Soldat von einem weiblichen RAF-Mitglied angemacht, in einen Wald gelockt und per Genickschuss ermordet. Alleiniges Ziel ist der Dienstausweis des G.I., mit dessen Hilfe am nächsten Tag eine Autobombe in der Frankfurter US-Airbase plaziert wird.

Letzte Zuckungen. Mit der französischen Action Directe (die in Frankreich bereits ähnlich isoliert wie die RAF es in der BRD ist) wird Kooperation vereinbart. Ein gemeinsames Kommuniqué erscheint. Dafür darf der französische General Audran durch ein Attentat des Action-Directe-Kommandos „Elisabeth van Dyck“ (ein von der Polizei erschossenes RAF-Mitglied) den Löffel abgeben. Knapp zwei Jahre später muss auch der Renault-Chef dran glauben, dann wird die Action Directe fast komplett aus dem Verkehr gezogen.

Nachdem die DDR heim ins Reich gekehrt ist, möchten die Machthaber endlich auch die zur gesamtdeutschen Altlast gewordene RAF entsorgen. Anfang 1992 kommt es deshalb zur sogenannten „Kinkel-Initiative“ des damaligen Justizministers gleichen Namens. Rechtlich gesehen ein unglaublicher Vorgang: der Bundesjustizminister erklärt, dass die einschlägigen Strafvollzugsgesetze auch auf „Ex-Terroristen“ angewandt werden könnten…! Zwei Monate später antwortet die RAF mit einer „Rücknahme der Eskalation“: O.k., wir murksen erstmal keine von euren Repräsentanten mehr ab. Ein halbes Jahr darauf folgt im „August-Papier“ die Erklärung der RAF dafür: das Erschießen und Sprengen von dicken Nummern aus Politik und Wirtschaft hat nicht den erwünschten Erfolg gehabt, wir machen jetzt in „revolutionärer Massenbasis“. Was immer die RAF darunter verstehen mag.

Die letzten, die RAF betreffenden Schlagzeilen, dürften auch jüngeren Mitbürgern geläufig sein: im März 1993 bläst das Kommando „Katharina Hammerschmidt“ mit 200 Kilogramm von Dr. Alfred Nobels Wundermedizin den bezugsfertigen Knastneubau in Weiterstadt bei Darmstadt in die Luft; niemand wird verletzt. Nach fast 20 Jahren Privatkrieg zwischen RAF und RDW (Rest Der Welt) endlich mal wieder eine Aktion, bei der einem richtig warm ums Herz werden konnte. Ein kleiner Wermutstropfen dabei ist die Möglichkeit, dass vielleicht ein durchgegangener Polizeispitzel daran beteiligt gewesen sein könnte. Den Schlusspunkt, allerdings, setzt die GSG-9: auf dem Bahnhof von Bad Kleinen wird das kampfunfähig verwundete RAF-Mitglied Wolfgang Grams (nachdem er zuvor einen Polizisten erschossen hat) kaltblütig liquidiert. Innenminister und Generalbundesanwalt müssen zwar den Hut nehmen, aber die Mörder von Grams bleiben – wie gehabt – unbehelligt.

Kehren wir zum Beginn des Endes der RAF zurück. Angeblich erst seit Anfang 1978 will Inge Viett erste Kontakte zum MfS der DDR aufgenommen haben. Es spricht einiges dafür, dass diese Kontakte älter sind und dass sie auch nach dem Ausstieg von Viett 1981/82 in der Politik der RAF in den Folgejahren eine wie auch immer geartete Rolle gespielt haben. Wie auch immer. Es ist der erbärmlichste und verfickteste Verrat überhaupt. Kontakte zu einem Geheimdienst – welchen Landes und Staates auch immer – sind für eine einstmals sich sozialrevolutionär gerierende Person oder Gruppe das Allerletzte. Das ist die Grube. In die lassen wir die RAF-Auflösungserklärung fallen. Aber keine Träne.

Knofo