Wir schreiben den 2. Juni 1878. Begleitet von einer Horde Gardekürassiere der Sicherungsgruppe „Potsdam“ pest eine offene Prunkkutsche durch den Berliner Tiergarten. In ihr sitzt kein geringerer als Kaiser Wilhelm I. Seine Majestät befindet sich auf dem Wege zur Oper, wo er – kein Witz – zusammen mit dem damaligen Schah von Persien, Kultur zu genießen gedenkt. Doch dazu kommt es nicht: hinter einer Hecke lauert der Berliner Arzt und Antimonarchist Nobiling, republikanisch im Herzen und eine doppelläufige Flinte in den Händen. Als die offene Kalesche wegen eines Fußgängerüberweges auf der Höhe des Attentäters die Geschwindigkeit reduzieren muß, gibt Nobiling Feuer. Der deckungsuchende Kaiser fängt sich eine Ladung Schrot in den Allerdurchlauchigsten: Nobiling entkommt fürs Erste. Er wird jedoch erkannt und entleibt sich, als man ihn in seiner Wohnung verhaften will.
Zeitgenössischen Berichten zufolge hat sich der Kutscher des vorsorglich herbeigeorderten Gefangenentransporters an der niedrigen Toreinfahrt von Nobilings Hof den Schädel eingerammt und ist ohnmächtig vom Bock gestürzt (99 Jahre später, anläßlich der Verhaftung des nichtsnutzigen Chronisten und Verfassers dieser Zeilen im Ausland, als man ihn in einem supergeheimen Transport zum Flughafen zwecks Auslieferung an den Nachfolger des Kaisereiches fuhr, ging unterwegs das Benzin aus: es hat sich also kaum was geändert).
Doch zurück zum Kaiser. Dieser ließ sich – auf dem Bauche liegend – schleunigst nach Hause fahren. Das anschließende Entfernen der bleiernen Fremdkörper aus dem Hinterteil seiner Majestät war anscheinend so schmerzvoll, dass Wilhelm in Rage – es war bereits das zweite Attentat in diesem Jahr – seinen eilends herbeigeeilten Kanzler viehisch abkanzelte. Woraufhin dieser – es war kein geringerer als Bismarck – auf der Stelle die berüchtigten Sozialistengesetze durchpeitschen ließ.
Wilhelms Sitzfleisch war jedoch schon so lädiert, das er gerade noch voller Genugtuung diverse Sozialdemokraten, Anarchisten & ähnliches Gesindel hinter den Mauern der Spandauer Festung verschwinden sah, bevor er selbst die Platte putzte.
Als ein gutes Menschenleben später das 1878 mißglückte Tête á Tête in der Berliner Oper mit einem Nachfahren des Schah von Persien nachgeholt werden sollte (echt keine Scheiße: wie damals stand 1967 „Die Zauberflöte“ auf dem Programm), rüttelte ein Mob demokratiebewußter Jugendlicher an den Pforten des Musentempels, und in einer Seitenstraße schoß ein Zivilbulle einen flüchtenden Studenten in den Hinterkopf. Was Benno Ohnesorg, so hieß der Student, nicht überlebte und was ein paar Jahre später der Zentralrat der umherschweifenden Haschrebellen (kurz: der Blues) zum Anlaß nahm, der von ihm und anderen Gruppen gegründeten tollkühnen Vereinigung den Namen jenes traurigen Tages zu geben.
Wie wir alle wissen, hat es der Schah auch nicht so gut getroffen. Er ließ noch ein paar Jahre recht lustlos herumfoltern und -morden, bis er im Exil – vom Krebs aufgefressen wurde. An Nobiling und die punktierte Schwarte des Kaisers aber dachte niemand/ fraud mehr.
Die tollkühne Vereinigung, jedoch entwickelte sich lustvoll und munter fort. Ihre Volkstümlichkeit ist längst legendär und manch großes und kleines Berliner Kind erinnert sich noch mit Vergnügen an den einen oder anderen Negerkuß aus den Händen der Bewegung – obwohl man doch nur die Miete einzahlen oder ein Konto eröffnen wollte.
HABT MUT ZU KÄMPFEN
ANARCHIA SI !
Als sozusagen heimliche Vereinigung wurde die Bewegung dadurch populär, dass sie ausschließlich Spitzel proletarischer Herkunft in ihren Reihen duldete, dem zarten Blattgrün der Cannabis Indica immer schon äußerst aufgeschlossen gegenüber gestanden hatte (“Don´t legalize it – Smoke it”) und außer der hochprozentigen, keine Fahne so richtig ernst nahm.
Neben ihren Verdiensten um das Berliner Kultur- und Transportwesen sowie der Arbeiterernährung (durch massenhafte Raubdrucke von Eintrittskarten für Rockkonzerte, von Fahrscheinen – als Ausgleich dafür brannte die Schwarzfahrerkartei der Berliner Verkehrsbetriebe -, Kantinenbons von Siemens u.a.), sind als besondere Highlights das bis dato größte “Smoke-In” auf dem Olivaer Platz am Ku-Damm und die von Bandenhand geflickte Hose des damaligen Berliner CDU-Vorsitzenden, Peter Lorenz, zu nennen, der eigens zu diesem Behufe eine Woche lang kostenlos in einem Etablissement der Bewegung untergebracht worden war. Die Regierung war davon so gerührt, dass sie fünf GenossInnen aus dem Knast entließ und in den Jemen flog. Ehrenamtlich begleitet übrigens von Heinrich Alberts der 1967, zur Zeit der Ermordung Benno Ohnesorgs, Regierender Bürgermeister von Berlin und Gastgeber des Schah von Persien war.
Dies sind natürlich nur einige Beispiele für die diversen & vielfältigen Aktivitäten der Bewegung. Allein die Aufzählung aller großen und kleinen Maßnahmen, die zur Arbeitsplatzsicherung bei der Berliner Feuerwehr ergriffen worden sind, würde Bände füllen.
Statistische Angaben über die Bewegung sind dünn gesät. Nach der Drohung, ihren Chef von 500 Yorkshireschweinen vergewaltigen zu lassen, rückte das Bundesbandenministerium schließlich folgende Daten heraus:
Geschätzte Mitgliederzahl: ca. 379.000 hier, weltweit etwa 200 Millionen. Das Alter der MitgliederInnen ist nach unten und oben offen; der Jüngste soll 11 Monate, der Älteste 108 Jahre alt sein.
Bemerkswert ist, dass sich die meisten über ihre Mitgliedschaft völlig im Unklaren zu sein scheinen; wahrscheinlich, weil die Aufnahme nach hartnäckigem Schwarzfahren, wiederholten Ladendiebstählen, Brandstiftungen in den Horten des organisierten Großkapitals sowie Haus- und Betriebsbesetzungen völlig automatisch erfolgt und es keinerlei Karteien gibt.
Als Beleg für die außerordentliche Listigkeit der Tollkühnen Vereinigung, deren Namen noch in 100 Jahren an die Ermordung Benno Ohnesorgs erinnern wird und die es wohl selbst dann noch geben wird, wenn sie gar nicht mehr existiert, sei hier an die Kreierung ihres ehemaligen Maskottchens Bommi (so etwas ähnliches wie der Ziegenbock der englischen Fussballnationalmannschaft) erinnert. Ein unter diesen Namen veröffentlichtes Druckwerk wird von naiven Zeitgenossen bis heute als autentische Geschichtsschreibung angesehen. Sogar das BKA ist darauf hereingefallen und suchte diesen “Bommi” sogar mit Haftbefehl. Dabei gibt es ihn gar nicht und es ist – nach der Lektüre des Buches – höchst zweifelhaft, ob es ihn je gegeben hat!
Seit Anfang der 80er Jahre kursiert hier & dort in mehr oder weniger halbseidenen Kreisen das Gerücht, die Bewegung habe sich aufgelöst oder sei gar geschlossen zur Ruppigen Armee Fraktion übergelaufen – alles Kokolores.
Der 1. FC St. Pauli lässt sich ja schließlich auch nicht einfach so mal auflösen. Im Gegenteil: Mittlerweile wird die RAF (wie alle Betriebe mit DDR-Beteilung) von der Treuhand abgewickelt. Während die “Bewegung 2. Juni” das Ziel der Organisation, ihr Scheitern, voll erreicht hat.
Hier schließen wir die Chronik vorerst ab. Zu bemerken bleibt noch, daß, wenn der Hauptstadtbeschluß nicht rückgängig gemacht wird (Bitterfeld liegt einfach besser), die Bewegung außer dem 2. Juni auch die übrigen 364 Tage des Jahres für sich reklamieren wird. Dann könnt ihr euch warm anziehen. Denn wie schon Fritz Nitzsche glasklar erkannt hat, “es wäre töricht, einem Erdbeben Einhalt gebieten zu wollen”.
Guten Morgen.
Knofo
veröffentlicht in:
SCHWARZER KALENDER ’92
S.163- 168
Herausgeber: Friends of Durruti Berlin im AurorA & Anti-Quariat Reprint Verlag Berlin
Satz: Friends of Durruti Berlin & Micky Druck: Schwarz-Druck Berlin Bindung: Mikolai-Verlagsbuchbinderei Berlin
wie alles anfing
+ + + dokumentation + + +
* DER BLUES *
ICH WILL ALLES,UND ICH WILL ES GLEICH, MANN…
SPIEL ES, WIE ES IST, BRUDER…
Wie alles anfing
Wir schreiben den 2. Juni 1878. Begleitet von einer Horde Gardekürassiere der Sicherungsgruppe „Potsdam“ pest eine offene Prunkkutsche durch den Berliner Tiergarten. In ihr sitzt kein geringerer als Kaiser Wilhelm I. Seine Majestät befindet sich auf dem Wege zur Oper, wo er – kein Witz – zusammen mit dem damaligen Schah von Persien, Kultur zu genießen gedenkt. Doch dazu kommt es nicht: hinter einer Hecke lauert der Berliner Arzt und Antimonarchist Nobiling, republikanisch im Herzen und eine doppelläufige Flinte in den Händen. Als die offene Kalesche wegen eines Fußgängerüberweges auf der Höhe des Attentäters die Geschwindigkeit reduzieren muß, gibt Nobiling Feuer. Der deckungsuchende Kaiser fängt sich eine Ladung Schrot in den Allerdurchlauchigsten: Nobiling entkommt fürs Erste. Er wird jedoch erkannt und entleibt sich, als man ihn in seiner Wohnung verhaften will.
Zeitgenössischen Berichten zufolge hat sich der Kutscher des vorsorglich herbeigeorderten Gefangenentransporters an der niedrigen Toreinfahrt von Nobilings Hof den Schädel eingerammt und ist ohnmächtig vom Bock gestürzt (99 Jahre später, anläßlich der Verhaftung des nichtsnutzigen Chronisten und Verfassers dieser Zeilen im Ausland, als man ihn in einem supergeheimen Transport zum Flughafen zwecks Auslieferung an den Nachfolger des Kaisereiches fuhr, ging unterwegs das Benzin aus: es hat sich also kaum was geändert).
Doch zurück zum Kaiser. Dieser ließ sich – auf dem Bauche liegend – schleunigst nach Hause fahren. Das anschließende Entfernen der bleiernen Fremdkörper aus dem Hinterteil seiner Majestät war anscheinend so schmerzvoll, dass Wilhelm in Rage – es war bereits das zweite Attentat in diesem Jahr – seinen eilends herbeigeeilten Kanzler viehisch abkanzelte. Woraufhin dieser – es war kein geringerer als Bismarck – auf der Stelle die berüchtigten Sozialistengesetze durchpeitschen ließ.
Wilhelms Sitzfleisch war jedoch schon so lädiert, das er gerade noch voller Genugtuung diverse Sozialdemokraten, Anarchisten & ähnliches Gesindel hinter den Mauern der Spandauer Festung verschwinden sah, bevor er selbst die Platte putzte.
Als ein gutes Menschenleben später das 1878 mißglückte Tête á Tête in der Berliner Oper mit einem Nachfahren des Schah von Persien nachgeholt werden sollte (echt keine Scheiße: wie damals stand 1967 „Die Zauberflöte“ auf dem Programm), rüttelte ein Mob demokratiebewußter Jugendlicher an den Pforten des Musentempels, und in einer Seitenstraße schoß ein Zivilbulle einen flüchtenden Studenten in den Hinterkopf. Was Benno Ohnesorg, so hieß der Student, nicht überlebte und was ein paar Jahre später der Zentralrat der umherschweifenden Haschrebellen (kurz: der Blues) zum Anlaß nahm, der von ihm und anderen Gruppen gegründeten tollkühnen Vereinigung den Namen jenes traurigen Tages zu geben.
Wie wir alle wissen, hat es der Schah auch nicht so gut getroffen. Er ließ noch ein paar Jahre recht lustlos herumfoltern und -morden, bis er im Exil – vom Krebs aufgefressen wurde. An Nobiling und die punktierte Schwarte des Kaisers aber dachte niemand/ fraud mehr.
Die tollkühne Vereinigung, jedoch entwickelte sich lustvoll und munter fort. Ihre Volkstümlichkeit ist längst legendär und manch großes und kleines Berliner Kind erinnert sich noch mit Vergnügen an den einen oder anderen Negerkuß aus den Händen der Bewegung – obwohl man doch nur die Miete einzahlen oder ein Konto eröffnen wollte.
Als sozusagen heimliche Vereinigung wurde die Bewegung dadurch populär, dass sie ausschließlich Spitzel proletarischer Herkunft in ihren Reihen duldete, dem zarten Blattgrün der Cannabis Indica immer schon äußerst aufgeschlossen gegenüber gestanden hatte (“Don´t legalize it – Smoke it”) und außer der hochprozentigen, keine Fahne so richtig ernst nahm.
Neben ihren Verdiensten um das Berliner Kultur- und Transportwesen sowie der Arbeiterernährung (durch massenhafte Raubdrucke von Eintrittskarten für Rockkonzerte, von Fahrscheinen – als Ausgleich dafür brannte die Schwarzfahrerkartei der Berliner Verkehrsbetriebe -, Kantinenbons von Siemens u.a.), sind als besondere Highlights das bis dato größte “Smoke-In” auf dem Olivaer Platz am Ku-Damm und die von Bandenhand geflickte Hose des damaligen Berliner CDU-Vorsitzenden, Peter Lorenz, zu nennen, der eigens zu diesem Behufe eine Woche lang kostenlos in einem Etablissement der Bewegung untergebracht worden war. Die Regierung war davon so gerührt, dass sie fünf GenossInnen aus dem Knast entließ und in den Jemen flog. Ehrenamtlich begleitet übrigens von Heinrich Alberts der 1967, zur Zeit der Ermordung Benno Ohnesorgs, Regierender Bürgermeister von Berlin und Gastgeber des Schah von Persien war.
Dies sind natürlich nur einige Beispiele für die diversen & vielfältigen Aktivitäten der Bewegung. Allein die Aufzählung aller großen und kleinen Maßnahmen, die zur Arbeitsplatzsicherung bei der Berliner Feuerwehr ergriffen worden sind, würde Bände füllen.
Statistische Angaben über die Bewegung sind dünn gesät. Nach der Drohung, ihren Chef von 500 Yorkshireschweinen vergewaltigen zu lassen, rückte das Bundesbandenministerium schließlich folgende Daten heraus:
Geschätzte Mitgliederzahl: ca. 379.000 hier, weltweit etwa 200 Millionen. Das Alter der MitgliederInnen ist nach unten und oben offen; der Jüngste soll 11 Monate, der Älteste 108 Jahre alt sein.
Bemerkswert ist, dass sich die meisten über ihre Mitgliedschaft völlig im Unklaren zu sein scheinen; wahrscheinlich, weil die Aufnahme nach hartnäckigem Schwarzfahren, wiederholten Ladendiebstählen, Brandstiftungen in den Horten des organisierten Großkapitals sowie Haus- und Betriebsbesetzungen völlig automatisch erfolgt und es keinerlei Karteien gibt.
Als Beleg für die außerordentliche Listigkeit der Tollkühnen Vereinigung, deren Namen noch in 100 Jahren an die Ermordung Benno Ohnesorgs erinnern wird und die es wohl selbst dann noch geben wird, wenn sie gar nicht mehr existiert, sei hier an die Kreierung ihres ehemaligen Maskottchens Bommi (so etwas ähnliches wie der Ziegenbock der englischen Fussballnationalmannschaft) erinnert. Ein unter diesen Namen veröffentlichtes Druckwerk wird von naiven Zeitgenossen bis heute als autentische Geschichtsschreibung angesehen. Sogar das BKA ist darauf hereingefallen und suchte diesen “Bommi” sogar mit Haftbefehl. Dabei gibt es ihn gar nicht und es ist – nach der Lektüre des Buches – höchst zweifelhaft, ob es ihn je gegeben hat!
Seit Anfang der 80er Jahre kursiert hier & dort in mehr oder weniger halbseidenen Kreisen das Gerücht, die Bewegung habe sich aufgelöst oder sei gar geschlossen zur Ruppigen Armee Fraktion übergelaufen – alles Kokolores.
Der 1. FC St. Pauli lässt sich ja schließlich auch nicht einfach so mal auflösen. Im Gegenteil: Mittlerweile wird die RAF (wie alle Betriebe mit DDR-Beteilung) von der Treuhand abgewickelt. Während die “Bewegung 2. Juni” das Ziel der Organisation, ihr Scheitern, voll erreicht hat.
Hier schließen wir die Chronik vorerst ab. Zu bemerken bleibt noch, daß, wenn der Hauptstadtbeschluß nicht rückgängig gemacht wird (Bitterfeld liegt einfach besser), die Bewegung außer dem 2. Juni auch die übrigen 364 Tage des Jahres für sich reklamieren wird. Dann könnt ihr euch warm anziehen. Denn wie schon Fritz Nitzsche glasklar erkannt hat, “es wäre töricht, einem Erdbeben Einhalt gebieten zu wollen”.
Guten Morgen.
Knofo
veröffentlicht in:
SCHWARZER KALENDER ’92
S.163- 168
Herausgeber: Friends of Durruti Berlin
im AurorA & Anti-Quariat Reprint Verlag Berlin
Satz: Friends of Durruti Berlin & Micky
Druck: Schwarz-Druck Berlin
Bindung: Mikolai-Verlagsbuchbinderei Berlin
Printed in Kreuzberg. Allen Rechten vorenthalten.
ein weiterer Text aus dem SCHWARZEN KALENDER ’92: gib.squat.net/blues/twh/anarchafem/inismus.html